31. Juli 2022

Geschlecht = Geschlechtsidentität? – 20 US-Bundesstaaten haben die Biden-Administration erfolgreich daran gehindert, ihnen Vorschriften über die Reichweite von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu machen

Nach Erlass eines bahnbrechenden Urteils des U.S. Supreme Court zum Thema Geschlechtsdiskriminierung am 15.06.2020 hatte U.S. Präsident Joe Biden kurz nach Amtsantritt am 20. Januar 2021 zur Erfüllung eines seiner Wahlversprechen eine sog. „Executive Order“ [1] (Durchführungsverordnung) zur „Prävention und Bekämpfung von Diskriminierung auf der Basis von Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung“ erlassen. Die Bundesbehörden (federal agencies) wurden darin angewiesen, alle Gesetze, welche sich mit dem Verbot von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts befassen, nach dieser Interpretation der Biden-Administration umzusetzen. Daraufhin hatten das Bildungsministerium (Department of Education), die Kommission für Gleichbehandlung am Arbeitsplatz (Equal Employment Opportunity Commission) und das Justizministerium (United States Department of Justice) die Bundesstaaten und deren nachgeordnete Behörden in Form von rechtsverbindlichen Schreiben angewiesen, die Durchführungsverordnung des U.S. Präsidenten umzusetzen.

Dagegen haben sich 20 republikanisch geführte Bundesstaaten zur Wehr gesetzt und beim U.S. District Court des Eastern District of Tennessee in Knoxville, der örtlich zuständigen untersten Instanz der Bundesgerichtsbarkeit, Klage eingereicht. Dieser hat am 15.07.2022 eine bemerkenswerte einstweilige Anordnung (preliminary injunction[2]) erlassen: Den Beklagten hat das Gericht bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache (Urteil) untersagt, die klagenden Bundesstaaten in rechtlich verbindlicher Form anzuweisen, die Durchführungsverordnung von Präsident Biden umzusetzen. Was macht die Angelegenheit so brisant?

In der Entscheidung des US Supreme Court vom 15.06.2020 wird die Diskriminierung wegen Homosexualität oder Transgender am Arbeitsplatz auch teilweise als Diskriminierung wegen des Geschlechts angesehen. Wenn also eine ArbeitgeberIn einer Person kündige, weil sie homosexuell oder transgender sei, verletze sie damit Title VII des Civil Rights Act 1964 (Gesetz über Bürgerrechte, zitiert: Title VII), der die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts untersagt.[3] Das Gericht wollte dieses Urteil aber nicht auf andere Bundes- oder Landesgesetze, die sich mit Diskriminierung wegen des Geschlechts in anderen Bereichen beschäftigen, ausgeweitet wissen, und seine Entscheidung gab auch nicht vor, sich mit Toiletten, Umkleidekabinen, Kleiderordnungen oder dergleichen zu befassen.

Trotz dieser vom U.S. Supreme Court selbst deutlich gemachten einschränkenden Reichweite des Urteils veröffentlichte das Bildungsministerium am 22.06.2021 eine „Interpretation“ (Rechtsauslegung) im Amtsblatt (Federal Register) der U.S.A, aus welcher hervorgeht, dass ein Positionswechsel stattgefunden habe: Title IX des Education Amendments of 1972 (Bildungsgesetz, zitiert: „Titel IX“) werde nunmehr dahingehend ausgelegt, dass Diskriminierung aufgrund des Geschlechts auch diejenige aufgrund der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität mit einschließe. Das Ministerium werde dafür sorgen, dass Diskriminierung aus o.g. Gründen in Bildungsprogrammen, welche Bundesmittel erhielten, unterbleibe. Das „Technical Assistance Document“ der Kommission für Gleichbehandlung am Arbeitsplatz vom 15.06.2021 spricht von den Pflichten der ArbeitgeberIn, transgender Personen in Bezug auf Kleiderordnung, Toiletten, Umkleidekabinen, Duschen und bevorzugte Anrede (Personalpronomen) nach Bundesrecht entsprechend ihrer „Geschlechtsidentität“ nichtdiskriminierend zu behandeln. Im „Dear Educator“ letter vom 23.06.2021 benennt das Bildungsministerium Beispiele von Verhalten in Bezug auf sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität und weist darauf hin, dass es befugt sei, Vorfälle von Diskriminierung unter Title IX zu untersuchen. Das „Fact Sheet“ des Bildungsministeriums von Juni 2021 schreibt den Bundesstaaten vor, StudentInnen zu den Sportteams zuzulassen, die auch ihrer „Geschlechtsidentität“ anstatt ausschließlich ihrem biologischen Geschlecht entsprechen. Die Bundesstaaten Tennessee, Alabama, Arkansas, Idaho und Montana sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie ihre Gesetze zum Schulsport, zu Toiletten und Umkleidekabinen, die die Trennung nach Geschlechtern vorsehen, aussetzen müssten, um nicht den Entzug von Bundesmitteln sowie weitere Sanktionen zu riskieren.

Die klagenden Bundesstaaten argumentieren, die Biden-Administration habe das Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes (Administrative Procedure Act[4]) verletzt, weil sie die Entscheidung des Supreme Court extensiv ausgelegt und die Souveränität der Bundesstaaten, eigene Gesetze zu erlassen, durch eine Rechtsfortbildung von Title VII und Title IX ohne Beachtung der hierfür gesetzlich vorgeschriebenen Informations- und Anhörungsverfahren missachtet habe.

Der District Court erließ jetzt eine einstweilige Anordnung zugunsten der Kläger. Eine Berufung der Biden-Administration vor dem sog. US Court of Appeals for the Sixth Circuit in Cincinnati/Ohio (zuständig für Kentucky, Michigan, Ohio, Tennessee), einer der mittleren Instanzen der Bundesgerichtsbarkeit, ist zu erwarten. Schließlich wird der – jetzt sehr konservative – Supreme Court über diese knifflige Frage – nur zulässige Rechtsauslegung oder unzulässige Rechtsfortbildung von Bundesrecht – zu entscheiden haben und  wahrscheinlich die Umsetzungsanweisung der Executive Order von Präsident Biden als unzulässige, die Souveränität der klagenden Bundesstaaten verletzende Rechtsfortbildung verwerfen. Damit wäre auch die „Executive Order“ des U.S. Präsidenten zu sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität vom Tisch. Offen ist allerdings auch noch, ob die einstweilige Anordnung im Bestätigungsfall auf die Klägerstaaten begrenzt bleibt oder der Supreme Court sie auf alle Bundesstaaten – also auch die demokratisch sowie den Rest der republikanisch regierten – erstrecken wird (was er könnte).

Ein Schmankerl: Das US Chapter von Womens Declaration International (WDI) hat einen sog. „amicus curiae Brief“, also einen die Kläger unterstützenden Schriftsatz, an das Gericht verfasst, in dem die Verletzung der geschlechtsbasierten Rechte von Frauen und Mädchen durch die diversen rechtsverbindlichen Schreiben der Biden-Administration an die Bundesstaaten angeprangert wurde. Kara Dansky, Vorsitzende von WDI US teilte mit, der Schriftsatz sei zwar zurückgewiesen worden, aber sie schließe aus der Begründung der gerichtlichen Entscheidung, dass der Richter den Schriftsatz offensichtlich gelesen und ggf. auch den einen oder anderen Denkansatz berücksichtigt habe.

FAZIT: Letztendlich hatte es sich der Supreme Court mit seinem Urteil vom 15.06.2020 zu leicht gemacht. Den Umgang mit den gravierenden Folgen seiner Entscheidung zu „Geschlecht=Geschlechtsidentität“ hat er den Betroffenen – Frauen, Mädchen, homosexuelle Frauen und Männer – aufgebürdet. Überdies haben sich nach der Amtseinführung des neuen U.S. Präsidenten Joe Biden die Bundesministerien und -staaten sowie (zunächst) die untere Bundesgerichtsbarkeit mit dem Problem zu befassen.

Misslich ist, dass hier Homosexualität und Transgenderismus in einen Topf geworfen werden. Frauen- und Mädchenrechte werden möglicherweise in Zukunft aufgewertet werden, für Lesben und Schwule in den republikanisch geführten Klägerstaaten ist hingegen ein Backlash zu befürchten.

 

Gunda Schumann
Vorständin LAZ reloaded e.V. ©

 

[1] “Executive Order on Preventing and Combating Discrimination on the Basis of Gender Identity or Sexual Orientation”, Exec. Order No. 13988, 86 Fed. Reg. 7023-25, Jan. 20, 2021.

[2]

 https://www.laz-reloaded.de/wp-content/uploads/2022/07/Tennessee-v.-Dept-of-Educ-Granting-PI-7-15-2022.pdf

[3] Bostock v. Clayton County, Georgia, No. 17-1618 (homosexueller Mann); Altitude Express, Inc., et.al. v. Zarda et.al., as Co-Independent Executors of the estate of Zarda, No. 17-1623 (homosexueller Mann); R.G. & G.R. Harris Funeral Homes, Inc. v. Equal Employment Opportunity Commission et.al., 590 U.S. 1 (2020) (Syllabus) (transgender Person), https://www.supremecourt.gov/opinions/19pdf/17-1618_hfci.pdf [letzter Zugriff: 17.06.2020].

[4] Doc. 49-1 at 16-22.

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